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Vergaberechtsnovelle 2016 - Neuregelungen für die Vergabe von sozialen Dienstleistungen

Ein Gastbeitrag von Dr. Matthias Ganske

Gastautor Dr. Matthias Ganske
 

Das Vergaberecht ist nicht nur ein verhältnismäßig junges, sondern vor allem auch ein sich sehr dynamisch entwickelndes Rechtsgebiet. Letzteres spiegelt sich auch in der jüngsten Vergaberechtsnovelle 2016 wieder. Hintergrund bzw. Ausgangsprunkt der aktuellen Novelle sind die vom EU-Parlament mit Zustimmung des EU-Ministerrats beschlossenen und am 28.03.2014 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichen drei neuen EU-Vergaberichtlinien vom 26.02.2014 (sog. EU-Legislativpaket) . Diese werden durch das Vergaberechtsmodernisierungsgesetz (VergRModG) vom 17.02.2016  sowie die (noch zu erlassende ) Verordnung zur Modernisierung des Vergaberechts (VergRModVO), insbesondere die damit novellierte Vergabeverordnung (VgV n. F.), welche jeweils zum 18.04.2016 in Kraft treten werden/sollen, in nationales Recht umgesetzt.


Auswirkungen für die Vergabe von sozialen Dienstleistungen
Die Novellierung hat u. a. auch Folgen für die Vergabe von sozialen Dienstleistun-gen. Die insoweit wichtigsten Neuregelungen sollen hier in einem kurzen Überblick dargestellt werden.

Grundsätzlicher Anwendungsvorrang des europäischen Vergaberechts vor dem Sozialrecht
Vor dem Hintergrund der in der Vergangenheit verschiedentlich unternommenen Versuche, eine Verdrängung vergaberechtlicher Regelungen über eine angebliche Spezialität des Sozialrechts und/oder die Besonderheiten des sog. sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses zu begründen, ist zunächst aber klarzustellen, dass die Neuregelungen den grundsätzlichen Anwendungsvorrang des europäischen Vergaberechts nicht in Frage stellen, sondern vielmehr bekräftigen. Auch die Bundesregie-rung hat insoweit auf eine Kleine Anfrage hin ausdrücklich darauf hingewiesen, dass „die Anwendung des Vergaberechts auf die Leistungserbringung im sogenannten sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis [...] unter Beachtung der genannten Voraussetzungen nicht einheitlich beantwortet werden [kann], sondern [...] von der Ausgestaltung der konkreten Rechtsbeziehungen zwischen Leistungsträger, Leistungserbringer und Leistungsempfänger im jeweils anzuwendenden Leistungserbringungsrecht b[hängt]. Eine pauschale Ausnahme für Leistungen im sozialrechtlichen Dreiecks-verhältnis vom Vergaberecht ist europarechtlich weder möglich noch in der Sache gerechtfertigt“  . Es ist daher stets eine Einzelfallprüfung erforderlich, weil trotz Vorliegens eines sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses vorliegen kann

  • ein ausschreibungspflichtiger öffentlicher Auftrag , ein ausschreibungspflichtige Dienstleistungskonzession oder
  • ein vergaberechtsfreier Vorgang , der u. U. sogar die Anwendung des Vergaberechts verbietet .

Die Neuregelungen im Einzelnen
Soweit das Vergaberecht in seinem Anwendungsbereich indes nicht (ausnahmsweise) von vornherein ausgeschlossen ist, sind insbesondere folgende Neuerungen relevant:

Höherer Schwellenwert
Gemäß Art. 4 lit. d) der Allgemeinen Vergaberichtlinie 2014/24/EU (AVR) gilt für „soziale und andere besondere Dienstleistungen“ – anders als für allgemeine Dienstleistungen – ein Schwellenwert nicht in Höhe von 209.000 €, sondern in Höhe von 750.000 € (netto). Dahinter steht der Gedanke, dass bestimmte Dienstleistungskategorien, insbesondere die sog. personenbezogenen Dienstleistungen, wie etwa bestimmte Dienstleistungen im Sozial-, im Gesundheits- und im Bildungsbereich, aufgrund ihrer Natur lediglich eine begrenzte grenzüberschreitende Dimension haben. Diese Dienstleistungen werden in einem besonderen Kontext erbracht, der sich aufgrund unterschiedlicher kultureller Traditionen in den einzelnen Mitgliedstaaten stark unterschiedlich darstellt .

Vereinfachte und flexiblere Verfahrensregeln
Vor eben diesem Hintergrund soll(t)en – zumindest nach Ansicht des europäi-schen Gesetzgebers – für öffentliche Aufträge zur Erbringung dieser Dienstleistungen daher – neben einem höheren Schwellenwert – auch weitere spezifische Regelungen festgelegt werden . Dementsprechend unterstellen die Art. 74 ff. AVR die sozialen und anderen besonderen Dienstleistungen erleichterten Beschaffungsregelungen. Gemäß Art. 76 Abs. 1 Satz 1 AVR besteht daher – europarechtlich – zum einen lediglich die Pflicht, im Vergabeverfahren die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung der Unternehmen einzuhalten. Zum anderen sind gemäß Art. 75 AVR die beabsichtigte Vergabe sowie die Ergebnisse des Vergabeverfahrens unionsweit bekannt zu machen. Schließlich sieht Art. 20 Abs. 1 AVR vor, dass die Mitgliedstaaten das Recht zur Teilnahme an einem Vergabeverfahren geschützten Werkstätten und Wirtschaftsteilnehmern, deren Hauptzweck die soziale und berufliche Integration von Menschen mit Behinderungen oder von benachteiligten Personen ist, vorbehalten können oder bestimmen können, dass solche Aufträge im Rahmen von Programmen mit geschützten Beschäftigungsverhältnissen durchgeführt werden, sofern mindestens 30 % der Arbeitnehmer dieser Werkstätten, Wirtschaftsteilnehmer oder Programme Menschen mit Behinderungen oder benachteiligte Arbeitnehmer sind.

Weitere Verfahrensanforderungen gibt es auf Ebene des Europarechts praktisch nicht, können aber durch das nationale Recht im Sinne einer sog. überschießenden Umsetzung aufgestellt werden.
Die so von der Allgemeinen Vergaberichtlinie – im Sinne eines „Vergaberecht light“  – eröffnete Flexibilität für öffentliche Auftraggeber wird durch das Verga-berechtsmodernisierungsgesetz (VergRModG) zwar im Ansatz aufgegriffen, im Einzelnen aber – durch die insoweit maßgeblichen Bestimmungen in § 130 GWB n. F. und § 113 Satz 2 Nr. 2 GWB n. F. i. V. m. §§ 64 VgV n. F. – weniger weitgehend umgesetzt.

Freiere Wahl der Verfahrensart
So stehen nach § 130 Abs. 1 GWB n. F. den öffentlichen Auftraggebern bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen über soziale und andere besondere Dienstleistungen (zwar) das offene Verfahren, das nicht offene Verfahren, das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb, der wettbewerbliche Dialog und die Innovationspartnerschaft nach ihrer Wahl zur Verfügung. Gleiches wird auch nochmals in § 65 Abs. 1 VgV n. F. wiederholt.

Möglichkeit zur vergaberechtsfreien Vertragsänderungen bis 20 % des ursprünglichen Auftragswertes
Zudem ist gemäß § 130 Abs. 2 GWB n. F. – abweichend von § 132 Abs. 3 GWB n. F.   – die Änderung eines öffentlichen Auftrags über soziale und andere besondere Dienstleistungen ohne Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens zulässig, wenn der Wert der Änderung nicht mehr als 20 % des ursprünglichen Auftragswertes beträgt.
Im Übrigen sind jedoch die Vorschriften des sog. Kartellvergaberechts (§§ 97 ff. GWB n. F.) sowie der neuen Vergabeverordnung (VgV n. F.) grundsätzlich uneingeschränkt anzuwenden.
Eine „Öffnung“ schafft insoweit lediglich noch die vom deutschen Gesetzgeber in § 113 Satz 2 Nr. 2 GWB n. F. vorgesehene Verordnungsermächtigung. Danach wird die Bundesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bundesrates weitere Einzelheiten zur Vergabe zu regeln wovon insbesondere auch Regelungen der Leistungsbeschreibung, der Bekanntmachung, der Verfahrensarten und des Ablaufs des Vergabeverfahrens, der Nebenangebote, der Vergabe von Unteraufträgen sowie der Vergabe öffentlicher Aufträge und Konzessionen, die soziale und andere besondere Dienstleistungen betreffen, umfasst sind. Ausgefüllt werden soll diese Verordnungsermächtigung durch die Neuregelungen der §§ 64 ff. VgV n. F. (dazu sogleich im Folgenden).

Verlängerung der Laufzeit von Rahmenverträgen auf bis zu 6 Jahren
So verlängert § 65 Abs. 2 VgV n. F. die für Rahmenvereinbarungen übliche maximale (Regel-)Laufzeit von 4 auf 6 Jahre.

Möglichkeit für besondere (qualitative) Zuschlagskriterien
Darüber hinaus ermöglicht es § 65 Abs. 3 VgV n. F., in gewissem Umfang auch bieterbezogene Kriterien, wie beispielsweise den Eingliederungserfolg und Integrationsfortschritt, auf Ebene der Zuschlagskriterien zu berücksichtigen, in dem er vorsieht, dass „bei der Bewertung der in § 58 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 genannten Kriterien [...] insbesondere der Erfolg und die Qualität bereits erbrachter Leistungen des Bieters oder des vom Bieter eingesetzten Personals berücksichtigt werden [können], soweit dies nicht bereits im Rahmen der Eignung berücksichtigt worden ist“.

Möglichkeit zur Verkürzung von (Mindest-)Fristen
Weiter ermöglicht es § 65 Abs. 4 VgV n. F. dem öffentlichen Auftraggeber – mit Blick auf die Besonderheiten der jeweils in Rede stehenden Dienstleistung –  Verkürzungen von (Mindest-)Fristen bis zum (Regel-)Minimum von 15 Tagen vorzusehen.

Möglichkeit zum Absehen von einer Auftragsbekanntmachung (Interessenbekundungsverfahren)
Schließlich gibt § 66 Abs. 3 VgV n. F. dem öffentlichen Auftraggeber die Möglichkeit – in Abweichung von § 66 Abs. 1 und 2 VgV n. F. – von einer Auftrags-bekanntmachung abzusehen, wenn er auf kontinuierlicher Basis, also dauerhaft, eine Vorinformation veröffentlicht und diese Vorinformation

  • die Arten von Dienstleistungen benennt, die Gegenstand des zu verge-benden  Auftrages sein werden,
  • den Hinweis enthält, dass dieser Auftrag im nicht offenen Verfahren oder Verhandlungsverfahren ohne gesonderte Auftragsbekanntmachung vergeben wird,
  • die interessierten Unternehmen auffordert, ihr Interesse mitzuteilen (Inte-ressen-bekundung),
  • alle nach Anhang [...] der in § 37 Absatz 2 genannten Durchführungsver-ordnung (EU) in der jeweils geltenden Fassung geforderten Informationen enthält, und
  • wenigstens 35 Tage vor dem Zeitpunkt der Absendung der Aufforderung zur Interessensbestätigung veröffentlicht wird.

Aus Sicht der interessierten Unternehmen ist es daher in Zukunft wichtig, bereits der Aufforderung zur Interessenbekundung im Sinne von § 66 Abs. 3 Nr. 3 VgV n. F. rechtzeitig und in hinreichend deutlicher Form nachzukommen.


Fazit
Bei resümierender Betrachtung ist festzustellen, dass der deutsche Gesetzgeber die Freiheitsgrade, die ihm der europäische Richtliniengeber eröffnet hat, nicht besonders weit ausgeschöpft hat. Insbesondere hat er davon abgesehen, ein eigenständiges „Sozialvergaberecht“ im Sinne eines „Vergaberecht light“ zu schaffen. Die nationalen Novellenregelungen nehmen am bisherigen Vergabesystems insgesamt nur sehr moderate Veränderungen vor, bieten letztlich aber für die öffentlichen Auftraggeber vielfältige Möglichkeiten und Instrumentarien für ein Mehr an Vereinfachung, Flexibilität und Entbürokratisierung . Ob und wenn ja, wie, und vor allem in welche Richtung, davon in der Praxis tatsächlich Gebrauch gemacht werden wird, bleibt abzuwarten und hängt vor allem maßgeblich vom alleinigen Willen und nur sehr eingeschränkt kontrollierbaren Ermessen der öffentlichen Auftraggeber ab. Von der zukünftigen Praxis der Vergabestellen dürfte letztlich auch die Unternehmer- und Mittelstandsfreundlichkeit der zukünftigen Vergaben abhängen. Aus Bietersicht ist vor allem die faktische Beschränkung des effektiven Rechtsschutzes in Form des vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahrens infolge der Heraufsetzung des Schwellenwertes zu beachten.

Dr. Matthias Ganske
Dr. Matthias Ganske ist Rechtsanwalt und Partner der national und international tätigen Sozietät Redeker Sellner Dahs Partnerschaftsgesellschaft mbB (www.redeker.de, ganske@redeker.de). Er ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht sowie Fachanwalt für Vergaberecht und berät und vertritt seit mehr als 10 Jahren Unternehmen sowie private und öffentliche Institutionen u. a. im Bereich der Arbeitsmarktdienstleistungen. Darüber hinaus ist er Lehrbeauftragter an der Rheinischen Friedrich‐Wilhelms‐Universität Bonn und regelmäßig als Dozent für vergabe- und verwaltungsrechtliche Themen tätig. Dr. Ganske ist Mitkommentator in diversen Kommentaren zum Vergabe- und Verwaltungsecht und Autor zahlreicher Fachbeiträge. Er ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Verwaltungsrecht, Landesgruppe Nordrhein‐Westfalen, im Deutschen Anwaltverein (DAV), Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Vergaberecht im Deutschen Anwaltverein und Mitglied des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW).